Staunen aus verschiedenen Perspektiven

STAUNEN IN:

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von Georg Falke

Der Psalm 139 ist ein beliebter und zugleich umstrittener Psalm. Böse Zungen nennen ihn den „Stasi-Psalm“, weil er das Gefühl hervorrufe, von Gott überwacht zu sein. Es gäbe kein Entrinnen, weil er alles sieht und von uns weiß. In den Versen 1-3 heißt es: “HERR du hast mich erforscht und kennst mich. Ob ich sitze oder stehe, du kennst es. Du durchschaust meine Gedanken von fern. Ob ich gehe oder ruhe, du hast es gemessen. Du bist vertraut mit all meinen Wegen“.1

Die Beterin meditiert ihre Beziehung zu Gott, der als Alles umfassend charakterisiert wird. Diese göttliche Allgegenwart wird in den Versen 1-6 beschrieben und führt in den Versen 7-12 zu Fluchtgedanken. In den Versen 13-18 erinnert sich die Beterin einfühlsam an ihre eigene Erschaffung durch Gott. Es folgen die Verse 19-22 mit einem Rachewunsch gegen Frevler und Feinde Gottes. Diese drastischen Worte wurden im Stundengebet der Kirche gestrichen. Zum Schluss bittet die Beterin in den Versen 23-24, anknüpfend an Vers 1, um die Prüfung ihrer Gedanken und Wege.

In der Forschungsgeschichte gibt es zwei konkurrierende Sichtweisen auf Psalm 139. Für die einen spricht die Beterin von einer bedrängenden Gotteserfahrung. Sie fühle sich eingeengt und chancenlos diesem Gott zu entkommen. Die andere Seite spricht der Beterin eine bergende Gotteserfahrung zu. „Es gibt keine Anhaltspunkte….. dafür, das Gott sein Wissen gegen den Menschen gebrauchen wollte. Es fehlt jegliche feindliche Komponente. Eher verweist der Text auf eine tröstliche Allgegenwart Gottes in jeder Situation“.2

Kurt Marti wiederum siedelt den Psalm im Tempel an, wo die verfolgte Beterin sich einem Gottesurteil stelle. Dieser Gott durchschaue den Menschen bis ins Innerste. „Er erkennt seine verborgenen Triebkräfte und Absichten, ist er doch der Schöpfer“.3  Gott umschließe den Menschen „von hinten und vorne, er kenne uns besser als wir uns selbst und so sei es unmöglich sich Gott entziehen zu wollen“, so Kurt Marti weiter.

Die kommentierte Studienausgabe zur Einheitsübersetzung ordnet den Psalm folgendermaßen ein: „Er vereinigt Elemente eines Dankpsalms, eines Klagepsalms und einer weisheitstheologischen Reflexion über das Geheimnis des Menschseins und des Bösen in der Welt…..Das sich in ihm aussprechende Gottesbild ist eigenartig ambivalent und erinnert stark an das Ijob-Buch: Einerseits empfindet der Beter die Zuwendung Gottes als Begrenzung und Last….und andererseits feiert er sich als ein von Gott wundervoll geschaffenes Wesen, das von diesem liebevoll umsorgt und begleitet wird“. 4 Wie auch immer, je nach Perspektive und Sichtweise, ist Psalm 139 spannungsreich. Für die einen ein gern benutzter Zitatenschatz bei Taufen, Konfirmation und Firmung. Für die anderen eher abstoßend und eine Art von „Gottesvergiftung“ in Anlehnung an das gleichnamige Buch von Tilmann Moser zu Psalm 139 aus dem Jahr 1976. 5

Für unser Ausstellungsprojekt sind besonders die Verse 13-16 von Bedeutung.

„Du selbst hast mein Innerstes geschaffen,

hast mich gewoben im Schoß meiner Mutter.

Ich danke dir, dass ich so staunenswert und wunderbar gestaltet bin.

Ich weiß es genau: Wunderbar sind deine Werke.

Dir waren meine Glieder nicht verborgen,

als ich gemacht wurde im Verborgenen,

gewirkt in den Tiefen der Erde.

Als ich noch gestaltlos war, sahen mich bereits deine Augen.

In deinem Buch sind sie alle verzeichnet:

Die Tage, die schon geformt waren,

als noch keiner von ihnen da war“

Diese Verse spiegeln eine positive Sicht auf die Allgegenwart Gottes. Sowohl der biologische als auch der mythische Ursprung des Menschen werden in Beziehung gesetzt. „Dass die Entstehung eines Menschen in besonderem Maße seine Leiblichkeit betrifft, ist ein kulturgeschichtliches Kontinuum. Bemerkenswert ist jedoch, wie eng Psalm 139 den Körper der Beterin mit Gottes Schöpfungshandeln in Verbindung bringt. So wird das Werden im Mutterleib auf die handwerkliche Tätigkeit Gottes zurückgeführt“. 7

Der Psalm erinnert an die theologische Tradition des urzeitlichen Schaffen Gottes aus Genesis 1 und 2. Der Mutterleib und die Tiefen der Erde verweisen auf das Weibliche, welches Leben schenkt. Das Wachsen des Embryos wird als kunstvolle Textilarbeit dargestellt. Dazu Jürgen Ebach:“ Gott erscheint hier wie ein Weber, genauer, weil es sich um typische weibliche Arbeiten handelt, wie eine Weberin“.Die Erschaffung des Menschen wird im Bild des Webens dargestellt, einer im Orient spezifisch weiblichen Tätigkeit. Kurt Marti stellt in diesem Kontext die Frage, ob Gott doch nicht bis zur letzten Konsequenz patriachalisiert, d.h. auf eine nur männliche Rolle festgelegt wird. Die Textilmetapher wird schließlich in Vers 16 durch eine Textmetapher fortgeführt: Gott schreibt die Lebenstage des buntgewirkten Menschen in ein Buch. Das Schreiben wurde im Orient vorwiegend von Männern ausgeübt. Wer von Gott im Buch verzeichnet ist, kann weder vergessen werden noch verloren gehen.

Nach Christl Maier zeigt sich am Psalm 139 „dass das schöpferische Handeln Gottes geschlechtsspezifische Vorstellungen zusammenführt und damit über sie hinausweist“. Der Psalm drücke, so Christl Maier weiter „durch seine Kommunikationsstruktur und körperbezogene Sprache eine enge Beziehung der Beterin zur Gottheit aus, die von dieser als äußerst bedrohlich erfahren wird und sich erst im Rückblick auf die eigene Geschöpflichkeit zum Positiven wendet“. 10  In ihrer Rückerinnerung bestaunt die Beterin ihre eigene Entstehung, an die Zeit noch vor der Geburt und die Größe der Gedanken Gottes. „Was bleibt nach so einer Erinnerung anderes als das Staunen…. Diese Erinnerung hat eine Veränderung in der Gottesbeziehung der Beterin ermöglicht“. 11 Angesichts der bedrängenden Gegenwart Gottes erinnert sich die Beterin daran, dass Gott sie geschaffen und beziehungsfähig gemacht hat. Dafür kann sie Gott loben.

„Der Ort dieser Erkenntnis ist die Seele: Sie lässt mich das Atmen als Wohltat Gottes wahrnehmen und das Licht als Zeichen seiner Güte, das erstaunliche Zusammenspiel meiner Nerven und Sinne, das mich mühelos atmen lässt und mein Auge empfänglich macht für die Schönheiten des Lichts, als sein erstaunliches Werk. Ich bin gar nicht fähig zu ergründen, was sich da alles in mir abspielt……Wie erstaunlich sind all diese komplizierten Zusammenhänge, die sich so zu einer einfachen und immer wieder unsagbar schönen Erfahrung zusammenfinden: der Erfahrung zu leben“.12

„Ich danke dir, dass ich so staunenswert und wunderbar gestaltet bin“. Eine Einladung das eigene Leben immer wieder zu reflektieren und die staunenswerten Momente zu bedenken und zu feiern.

Anmerkungen

1 Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, Gesamtausgabe. Katholisches Bibelwerk, Stuttgart, S. 713

2 Katrin Brockmöller in: Frauenbibelarbeit Band 26, Frauen und die Psalmen, Hrsg: Eleonore Reuter, Verlag Katholisches Bibelwerk, 2011, S. 35

3 Kurt Marti: Die Psalmen – Annäherungen, Radius Verlag 2010, 2. Auflage S. 421

4 Erich Zenger+, Egbert Ballhorn in: Die Bibel – kommentierte Studienausgabe, Stuttgarter Altes Testament Band 2, Hrsg: Christoph Dohmen, Verlag Katholisches Bibelwerk, 2017, S. 1438

5  Näheres in: Erich Zenger: Die Nacht wird leuchten wie der Tag, Psalmenauslegungen, Herder Verlag, 1997, S. 466

6  Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, ebd, S. 713

7 Christl Maier: Beziehungsweisen – Körperkonzept und Gottesbild im Psalm 139, in: Körperkonzepte im Ersten Testament, Hrsg: Hedwig- Jahnow – Forschungsprojekt, Kohlhammer Verlag 2003, S. 179

8  zitiert in: Kurt Marti, ebd, S. 421f

9  Christl Maier, ebd, S. 180

10 Christl Maier, ebd, S. 180

11 Katrin Brockmöller, ebd, S. 37

12 Ingo Baldermann, Ich werde nicht sterben, sondern leben – Psalmen als Gebrauchstexte, Neukirchener Verlagsgesellschaft, 2011, 5. Auflage, S. 123

Methodisch – didaktische Hinweise zu Psalm 139

Eine bibeltheologische Betrachtung sowie methodische Anregungen zur Vertiefung finden Sie im Artikel von Katrin Brockmöller, s. Anmerkung 2

  1. Meister Eckhart sagt: „Gott geht nimmer in die Ferne, er bleibt ständig in der Nähe, und kann er nicht drinnen bleiben, so entfernt er sich doch nicht weiter als bis vor die Tür“.

  2. Welche Gotteserfahrung hast Du gemacht? Wann war er Dir besonders nah, wann besonders fern?
  1. Einen Gottesdienstentwurf mit kreativen Ideen, etwa einem Spiegelmonolog, Gebeten, Texten und Gesängen findest Du unter www. Frauenarbeit-sachsen.de/ Rogate – Frauentreffen 2005, Materialmappe zu Psalm 139
  1. Ideen und Impulse für eine meditative Erschließung des Psalms 139 findest Du unter: https://www. Pilgern-im-norden.de/ Sonntagspilgern mit Psalm 139, oder https://www.kirchenkreis-ostholstein.de/Sonntagspilgern mit Psalm 139
  1. Im Gotteslob findes Du unter den Liednummern 419 und 428 Bezüge zum Psalm 139

  2. Um zu werden der du bist –Klaus Hoffmann zu Psalm 139; in seinem Lied „Um zu werden der du bist“ auf der CD“ Zeit zu leben“, aus dem Jahr 2003, Track 8, spielt der Sänger und Liedermacher auf den Psalm 139 an. Siehe dazu einen Beitrag von Petra Schulze, Kirche im WDR, Evangelisches Rundfunkreferat NRW, vom 9.11.2017; https:// www. Kirche-im-wdr.de. Die Rechte liegen beim Evangelischen Rundfunkreferat NRW.
  1. Literarische Zugänge und freie Übersetzungen des Psalms 139; eine kleine Auswahl:

  2. Arnold Stadler: „Die Menschen lügen alle“ und andere Psalmen, Insel Taschenbuch, 2005, S. 100-102
    • Hanns Dieter Hüsch: “Mein Psalm zum Segen“, in: Hanns Dieter Hüsch/ Uwe Seidel: „Ich stehe unter Gottes Schutz“, Psalmen für alle Tage, tvd Verlag, 2014
    • Martin Buber: „Das Lied Du“ in: Erzählungen der Chassidim, Manesse Verlag, S. 342
    • Huub Osterhuis: „Psalmen“, Herder Verlag, 2014, S. 283ff
    • Dagmar Nick: „Sternfährten“, Rimbaud Verlag 1993, S. 23

von Georg Falke

  • 2 Sa 7,23
  • Tob 11,16
  • Jdt 10,7; 10,23; 11,16; 11,20
  • 1Mkk 15,32
  • 2Mkk 1,22; 7,12
  • Psalm 139,14
  • Weish 8,11; 13,4; 19,8
  • Sir 11,13; 47,17 (bewundert); 48,14
  • Hab 1,5
  • Mt 8,10; 8,27; 9,33; 15,31; 21,20
  • Mk 5,20; 6,2; 7,37; 12,17
  • Lk 1,63; 2,18; 2,33; 2,47; 4,22; 7,9; 8,25; 9,43; 11,14
  • Joh 5,20; 9,30
  • Apg 2,7; 3,10; 3,11; 8,13; 13,41
  • 2 Kor 11,15
  • Gal 1,6
  • Offb 13,3; 17,6; 17,8

von Dr. Andreas Michel-Andino

 „Weil sie sich nämlich wunderten, haben die Menschen zuerst wie jetzt noch zu philosophieren begonnen; sie wunderten sich anfangs über das Unerklärliche, das ihnen entgegentrat.“ 
Aristoteles, Metaphysik

Menschen zum Staunen zu bringen, ist die edle und ursprünglichste Aufgabe des Zauberkünstlers und gleichzeitig ist das Staunen nach Meinung einiger nicht unbedeutender Philosophen auch der Beginn der Philosophie. Gerade um dieses philosophische Staunen soll es nun gehen, denn die Illusionskunst kann es in ganz besonderer Weise anregen. Allerdings ist damit natürlich nicht die Suche nach dem besonderen Kick durch die sensationellste Vorführung gemeint. Nein, hier geht es um eine viel tiefere und länger anhaltende Emotion, die eben nicht gleich zur nächsten Sensation rennt, sondern sich selbst thematisierend gerade nicht nach der Erklärung eines Tricks sucht, sondern die Täuschung bewusst zulässt, um eben dieses Gefühl des Staunens genießen zu können.

In der Zauberliteratur dürfte es wohl das Interview in der Wochenzeitung „Die Zeit“ sein, das Heinrich Böll mit Alexander Adrion führte, in dem am Intensivsten über das Phänomen des Staunens nachgedacht wird. Etwas später veröffentlichte Adrion es in seinem ersten Buch „Zauberei, Zauberei“ aus dem Jahr 1968. Dabei äußert Böll auf Seite 38 einen Gedanken, über den ich sehr lange nachgedacht habe und inzwischen glaube, dass er leider nicht stimmt.

„Böll: Es gibt wahrscheinlich, vom Publikum aus gesehen, auch keine Steigerung von Staunen. Es staunt einer – und er kann nicht mehr staunen, als staunen. So wie unsere Vorfahren vor vierhundert Jahren Ihren Kollegen mit Staunen zugesehen haben, sehen auch wir Ihnen staunend zu.

Adrion: Daran habe ich selbst noch nie gedacht.

Böll: Es kann ein Mensch wirklich nur im Einverständnis mit Ihnen dasitzen und sagen „ich lasse mir was vormachen“ und staunt wirklich bei jeder Vorführung, da gibt es keine Steigerung. Das ist die Rettung Ihres Berufes.“

Irgendwie ist dieser Gedanke faszinierend, vor allem wenn man als Zauberkünstler eher das Kammerspiel vertritt. Da kommt ein späterer Literaturnobelpreisträger und erklärt einem, warum eine spektakuläre Großillusion nicht mehr Erstaunen hervorbringt als ein Kartenkunststück und warum die Zauberkunst auch im Zeitalter technischen Fortschritts nichts von ihrer Faszination einbüßt. Aber bei aller Faszination muss die Frage erlaubt sein, ob das wirklich so ist. Gibt es nicht vielmehr wie beim Lachen – die andere Emotion, auf der viele Zaubervorführungen beruhen – deutliche Abstufungen der Intensität des Staunens? Kann man eben nicht so wie man auch mehr oder weniger laut lachen kann auch mehr oder weniger stark staunen? Gibt es nicht Abstufungen des Staunens die von einem „ach, das ist ja nett“ bis zum „Wahnsinn, das kann man nicht verstehen“ reichen? Natürlich gibt es das und jeder auftretende Zauberkünstler kennt das aus seinen eigenen Vorführungen. Nur, weil ein Kunststück nicht auf Anhieb erklärbar ist, ruft es nicht die gleiche Reaktion hervor als wenn ein Elefant auf offener Bühne verschwindet. Und auch letzteres muss gut vorgeführt werden, sonst kann man darüber auch nicht wirklich staunen – oder eben nur ein bisschen.

Am schönsten hat für mich einmal Pit Hartling eine deutliche Steigerungsmöglichkeit des Staunens formuliert, als er in einem Interview in der Fachzeitschrift des Magischen Zirkels von Deutschland „Magie“ 3/2016 in Bezug auf Juan Tamariz meinte: „Es zog mir den Boden unter den Füßen weg! Mich überkam das Gefühl, dass ich nicht nur nicht wusste, wie das geht, sondern dass es gar nicht gehen kann! Das hatte eine ganz andere Qualität als alles, was ich bis dahin kannte.“

Besser kann man die Steigerung beim Staunen kaum formulieren, aber gerade deshalb muss hier noch einmal betont werden, dass dies nicht meinem ästhetischen Ideal entspricht. Juan Tamariz, den ich sehr bewundere, und Pit Hartling sowie einige andere Vertreter der spanischen Schule erklären die absolute Unerklärbarkeit von Zauberkunststücken zum Hauptziel der Illusionskunst. Es darf beim Zuschauer nur eine komplette Verblüffung übrig bleiben. Für mich dagegen ist es sogar durchaus wünschenswert, wenn Zuschauer das Gefühl haben, dass sie das Gebotene durchaus verstehen könnten, wenn sie es darauf anlegen würden. Mein ästhetisches Ideal ist erreicht, wenn sie bewusst darauf verzichten, weil sie verstehen, dass ihnen dann etwas verloren ginge. Dies ist eine andere Konzeption und es spricht mal wieder für die Zauberkunst, dass beides in ihr Platz hat.

Dennoch enthält dieser Gedanke von Böll etwas Wichtiges und eben für die Kleinkünstler unter uns etwas sehr Tröstliches: Die Intensität des Staunens hängt nicht von der Größe der Requisiten ab! Im Gegenteil: Je größer der technische Aufwand, desto geringer oft das Staunen, eben weil es zu viele technische Möglichkeiten gibt. Insofern kann die direkt vor den Augen des Zuschauers verschwindende Münze oder auch der sich verdoppelnde Schwammball ein größeres Staunen hervorrufen als der verschwindende Elefant, den ich vielleicht aus dreißig Metern Entfernung sehe. So gesehen könnte zumindest die Art des Staunens doch die Rettung unserer Kunst sein.

Noch bedeutender dafür scheint mir aber der zweite Teil des Zitats von Böll zu sein. Der Zuschauer, der sich tatsächlich im Einvernehmen mit dem Zauberer und im vollen Bewusstsein des Getäuschtwerdens dem Erlebnis des Staunens hingibt, ist wohl der Zuschauer, den wir uns alle wünschen. Aber dies ist ein schon philosophischer Zuschauer, der eine große Reife besitzen muss, wenn er die Täuschung seiner Sinne als Kunst genießen kann. Sehr viele gibt es wohl nicht davon…

Genau hier liegt der Schnittpunkt zum philosophischen Staunen. Das Aristoteles-Zitat, das hier als Motto voran gestellt wurde, gibt nur einen Teil davon wieder, denn bei Aristoteles ist das Staunen nur der Anfang, auf dem aufgebaut wird und letztlich ist die große philosophische Theorie, die uns die Merkwürdigkeiten dieser Welt abschließend erklärt, das Ziel. Vielleicht wäre deshalb das berühmte Einstein-Zitat, nach dem das Staunen das erhabenste Gefühl ist, zu dem der Mensch fähig ist, besser geeignet gewesen. Leider wird es zu oft zitiert und ist deshalb schon etwas abgenutzt. Dennoch bringt es aber etwas Entscheidendes auf den Punkt, denn in einer Zaubervorstellung geht es genau um dieses Staunen und den Sinn, den es in sich selber trägt. Die Nestorin der Schweitzer Philosophie, Jeanne Hersch, hat einmal ein wunderbares Buch geschrieben mit dem Titel „Das philosophische Staunen“. Genau genommen handelt es sich dabei um eine Philosophie-Geschichte, aber Hersch behandelt darin nur die Philosophen, die sich zeit Ihres Lebens das Staunen bewahrt und es zum zentralen Inhalt ihrer Philosophie gemacht haben. Die Fähigkeit, immer wieder zu staunen und sich dies auch durch noch so klug erscheinende Erklärungen nicht nehmen zu lassen, ist letztlich eine urphilosophische Fähigkeit. Und der philosophisch geschulte Zauberkünstler, der dies zum zentralen Inhalt seiner Kunst erklärte, ist Alexander Adrion. Sein Lebensmotto, das er von dem Maler Max Liebermann übernahm, lautet: „Nur der Schein trügt nicht.“ Diesen Schein immer wieder zu erkennen und sich an ihm zu erfreuen, ist die besondere Fähigkeit des verständigen und reifen Zuschauers, auf den wir Zauberkünstler immer wieder angewiesen sind.

 

Informationen über den Autor (mit Literaturtipps) unter: www.andino.eu

von Georg Falke

Das Staunen können ist ein fundamentales Vermögen des Menschen. Im Staunen erschließt sich das Wesen der Dinge. „Wer staunt, widersetzt sich der Vergeudung des Lebens“, so der Psychotherapeut Michael Depner.1  Staunen heißt, sich der plötzlich offenbarenden Kraft eines Augenblicks oder einer Sache hinzugeben. An Staunenswertem mangelt es in der Welt, in Natur, Kunst, Musik, Literatur und unter Menschen wahrlich nicht. Josef Pieper schreibt: „ Das tiefe Antlitz des Wirklichen erschließt sich erst im Staunen“.Rene Descartes wiederum  erkennt im Staunen die erste aller Leidenschaften, weil sie diejenige Leidenschaft sei, mit der der Mensch zu allererst auf etwas Neues reagiere“.3  Wenn Menschen etwas Wunderbares oder Unerwartetes erfahren wird ein Zustand aktiviert, der aus dem Schutzraum der eigenen Selbstsicherheit führt und außer Fassung bringt: durch Bestürzung und Erschrecken oder Überraschung und Staunen. Denn es kommt Neues, bislang Ungewohntes ins Licht des Bewusstseins. Dieser Impuls regt zum Weiterdenken und Weiterfragen an.

Es ist das Verdienst des italienischen Gestaltpsychologen Giuseppe Galli (1933-2016) das Staunen als soziale Tugend in das Blickfeld von Forschung und Lehre gerückt zu haben. Der Begriff Tugend hat in seiner langen Geschichte Zeiten erlebt, in denen er hoch im Kurs stand aber auch wie Romano Guardini schreibt: „ Das Wort berührt uns wahrscheinlich fremd, vielleicht sogar unsympathisch; es klingt leicht altmodisch und moralisch“.4 Tugenden sind abhängig von der Gesellschaft und ihrer Zeit, denn Religionen und ethische Vorstellungen haben sich oft in der Geschichte der Menschheit verändert. Im Mittelalter z.B. galten Klugheit, Weisheit, Gerechtigkeit und Tapferkeit als Kardinaltugenden. Christliche Tugenden dagegen waren Demut, Keuschheit, Wohlwollen und Fleiß. Als bürgerliche Tugenden wurden ab dem 19. Jahrhundert Pünktlichkeit, Ordentlichkeit, Reinlichkeit und Sparsamkeit verstanden.

Dieser Ansatz beschränkt sich auf das Verhalten einzelner Personen. Die Betreffenden werden in die Lage versetzt, unabhängig von anderen zu handeln und die Faktoren der Umgebung werden vernachlässigt. Dem setzt Galli dynamische Faktoren entgegen. Nämlich die der zwischenmenschlichen Beziehungen und den Rollen, die den einzelnen zukommen. Er schreibt: „ Bei Tugenden denken wir an Menschen, die in sich selbst ruhen, an Seinsweisen eines Einzelnen und weniger an das Miteinander mehrerer Personen. Durch die Hinzufügung des Beiwortes „sozial“ soll unterstrichen werden, daß die genannten Verhaltensweisen einen gleichermaßen konstitutiven Wert für die zwischenmenschlichen Beziehungen haben wie die Fäden eines Gewebes für den Stoff. Anders ausgedrückt sind Aufrichtigkeit, Vertrauen, Hingabe, Staunen oder Dankbarkeit Grundhaltungen, die sozusagen jene „Trägerstruktur“ bilden, die einzelnen Ereignissen im menschlichen Zusammenleben Gehalt und Farbe verleihen“. 5

Die Dynamik dieser Verhaltensweisen erläutert Galli mit Hilfe der Gestalttheorie. Der zufolge leiten sich Verhaltensweisen von der Beziehung zwischen Individuum und der konkreten Situation des Betreffenden ab. „Jede Person lebt in zwei Polen, Ich und Umgebung oder Subjekt und Objekt, die Ausdruck einer Art psychischen Gleichgewichts sind, nämlich von Ich und Wir.“ 6 In seinem Beitrag zu den sozialen Tugenden entdeckt Galli wichtige Formen von Beziehungsstrukturen. So sind Staunende zugleich Wahrnehmende und Empfangende, ohne Zugreifen oder in Besitz nehmen zu wollen.

Galli erläutert dies am Beispiel des Films „Himmel über Berlin“ von Wim Wenders. Dort leben zwei Engel unsichtbar unter den Menschen und hören aus nächster Nähe die Gedanken der Menschen. Doch bald hat einer der beiden das Bedürfnis sich zu verändern. Er will „ Hinein in die Furt der Zeit…. zuschauen ist nicht herabschauen, es geschieht auf Augenhöhe“. Dieser Engel erkennt plötzlich die kleinen Dinge des Lebens. Die Farben einer Malerei, den Geschmack einer Tasse Kaffee, eine blutende Wunde usw. Am tiefsten erfasst ihn die Begegnung mit einer Frau. Es ist das Staunen darüber zusammen zu sein. Damiel, der menschgewordene Engel, kann sagen:“ Ich habe in dieser Nacht das Staunen gelernt. Sie hat mich heimgeholt, und ich habe heimgefunden. Erst das Staunen über uns zwei, das Staunen über den Mann und die Frau hat mich zum Menschen gemacht. Ich … weiß … jetzt, was … kein … Engel …weiß“.7

Die Verwandlung des Engels in einen Menschen ist, so Galli, die Befreiung aus einer „Form“ des allwissenden Wesens, das aber keine Zuneigung kennt. Und Marion, die Geliebte, erkennt, dass in der Begegnung mit Damiel in ihr etwas gereift ist. Sie wird sich ihrer eigenen Individualität bewusst. Sie sind nun zusammen bereit für eine ernste Lebensform, ohne sich vom anderen ein fertiges Bild zu machen. Das Ich tritt zurück und beide können in ihrer Einzigartigkeit und ihrer selbst willen zur Geltung kommen, ohne vereinnahmt zu werden. Die beiden Protagonisten erleben in ihrem gegenseitigen Staunen ein sich selbst verstärkendes und selbst fühlendes Geschehen, was einem gelingenden Leben dient. Es ist die Ehrfurcht voreinander. Diese ist für Galli eine Voraussetzung für das Staunen, während Aufdringlichkeit und das Bedürfnis den anderen zu „besitzen“ das Staunen zunichtemachen. Der Jesuit Josef Bill spricht in diesem Zusammenhang vom „ dunklen Bruder des Staunens, das Grauen, die Lebensbedrohung und alles, was in den Zehn Geboten als Weisen der Lebensfeindlichkeit aufgeführt wird“.8  

Galli verdeutlicht seine Sicht mit einem Bild welches einen Blinden zeigt, der einen Lahmen auf den Schultern trägt, der ihm dafür sein Augenlicht borgt. „Gerade diese Abbildung einer interpersonalen Beziehung scheint mir die dargelegten sozialen Tugenden am besten zusammen zufassen. So setzt gegenseitige Hilfe die Anerkennung der eigenen Grenzen, deren aufrichtiges Eingeständnis, aber auch Hingabe und gegenseitiges Vertrauen, Dankbarkeit für das Empfangende und Staunen über die gegenseitige Ergänzung voraus“. 9

Was Galli über das Staunen als soziale Tugend heraus gearbeitet hat korrespondiert mit neuen wissenschaftlichen Forschungen aus Amerika. Der Psychologe Paul Piff beschreibt darin, wie das Gefühl des Erstaunens dazu beiträgt, kooperativer, hilfsbereiter und selbstloser zu werden. „Wer staunt hat an etwas teil, dass größer ist als man selbst – oder wie es Calvin und Hobbes ausdrücken, die sich angesichts der Unendlichkeit des Sternenhimmels wundern, warum die Menschheit so einen Riesenaufstand macht“.10  Piff sagt:“ Man hält sich nicht mehr für den Mittelpunkt der Welt. Die Aufmerksamkeit verlagert sich und man denkt auch an den Nutzen für andere“.11 Sei es durch Erlebnisse in der Natur, mit Kunst, Musik oder Religion; das selbst rückt in den Hintergrund. Unsere Forschung weist darauf hin, dass es mehr Hilfe und mehr Rücksicht gäbe, wenn die Menschen öfter staunen würden, so Piff.

Abschließend bleibt die Frage: Können wir Staunen lernen?

Dazu schreibt der Physiker und Pädagoge Martin Wagenschein (1896 – 1988): „ Es muss eine die Spontaneität der Lernenden herausfordernde Staunensfrage sein, die dem Leben möglichst nahestehen sollte“.12  Der Mensch könne nur gebildet werden „durch eine Begegnung die ihn ergreift, der er sich hingibt und die ihm dann zum Greifen und Begreifen bewegt“,  so Wagenschein weiter. In einer „Schule des Staunens“, in Wissensvermittlung und Bildung sind die Lebenswirklichkeiten Lernender ein konstitutives Moment, um selbständiges Denken und Handeln zu ermöglichen. Es gilt über das Staunen zum Begreifen zu führen, denn Staunen kann nicht gelehrt werden, da es etwas Unverfügbares bleibt. Der Philosoph Ekkehard Martens schreibt über die Chancen von Bildungsprozessen als Staunen:“ Das Staunen über Neues und Ungeahntes kann uns frei machen vom bisherigen Bildungsballast als einem toten Wissen, dass wir bloß angelernt, uns aber nicht zu eigen gemacht haben. Das Staunen kann uns zugleich freimachen für neue Bildungserfahrungen, die unsere Sicht auf uns selbst, auf andere und auf die Welt erweitern und differenzieren“.13 Das setzt voraus, das Lehrende und Bildungsverantwortliche selbst Staunende sind und Lernende, Zuhörende oder Teilnehmende in das eigene staunende Begreifen einbeziehen.

Wenn Menschen dem Staunen keinen Platz mehr im Leben gewähren, berauben sie sich der wunderbaren Möglichkeit, den Ursprung der Dinge zu erfahren.

„Die Welt ist aus dem Stoff, der Betrachtung verlangt“ (Ilse Aichinger)

 

Anmerkungen

  1. zitiert in: Staunen, Kunstforum International, Band 259, Köln, S.44
  2. Josef Pieper: Was heißt philosophieren? In: Schriften zum  Philosophiebegriff Band 3, Hrsg: Berthold Wald, Hamburg 1995, S.44
  3. zitiert in: Nicola Gess: Staunen – eine Poetik, Wallstein Verlag 2019, S.35
  4. Romano Guardini: Tugenden, Würzburg 1963, S.11
  5. Giuseppe Galli: Psychologie der sozialen Tugenden, 2.erw. Auflage 2005, Böhlau Verlag, S.11f
  6. Giuseppe Galli: Der Mensch als Mitmensch, Arbeiten zur Gestalttheorie, Hrsg: Gerhard Stemberger, Krammer Verlag, Wien 2017 S.39
  7. zitiert in: Giuseppe Galli: Psychologie der sozialen Tugenden a.a.O, S.86
  8. Josef Bill: Staunen – Tor zur Wirklichkeit, Würzburg 2019, S.67
  9. Giuseppe Galli: Psychologie der sozialen Tugenden, a.a.O. S. 136
  10. zitiert in: Werner Bartens: Staunen macht die Menschen besser, Süddeutsche Zeitung 20. Mai 2015
  11. ebd.
  12. Martin Wagenschein: Ursprüngliches Verstehen und exaktes Denken, Stuttgart 1965, S.401
  13. Ekkehard Martens: Staunen bildet. In: Das Kita Handbuch, Hrsg: Martin R. Textor und Antje Bostelmann, ohne Jahresangabe, online verfügbar unter: https://www.kindergartenpaedagogik.de/1055.htlm (Zugriff 24.09.2021)
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von Georg Falke

  1. Kinderbücher zum Thema Staunen: Umwelt, Tiere, Bäume, Menschen, Weltall, Musik, Zoo, Wasser, Gestirne etc. Einfach mal googeln oder eine Pfarrbibliothek oder Stadtbibliothek aufsuchen.
  2. Die Sendung mit der Maus.
    Besser kann man professionell, kindgerecht und zeitnah kaum über Themen der Kinder und heutigen Fragen informieren. Eine Einladung zum Staunen.
  3. Navid Kermani: Ungläubiges Staunen über das Christentum. Beck Verlag, 2015, mit 40 Abbildungen aus der christlichen Kunst.
    Kermani, selbst Muslim, versenkt sich in die christliche Bildwelt. Eine poetische Schule des Sehens und Meditationen über den Schrecken und die Schönheit des Christentums.
  4. Josef Bill SJ: Staunen – Tor zur Wirklichkeit; Ignatianische Impulse. Echter Verlag, 2019.
    Mit biblischen und literarischen Bezügen zu Ignatius von Loyola.
  5. Harald Lesch, Christian Kummer: Wie das Staunen ins Universum kam. Ein Physiker und ein Biologe über kleine Blumen und große Sterne. Patmos Verlag 2016
  6. Nicola Gess: Staunen – eine Poetik. Wallstein Verlag 2019.
    Eine eher wissenschaftliche Abhandlung über das Staunen in Literatur, Theater und Kunst.
  7. „Von Staunen und Neugier“ in: Thomas Staubli, Suivia Schroer: Menschenbilder der Bibel S. 565ff, Patmos Verlag, 2014
  8. „Staunen“ ein Plädoyer für eine existentielle Lebensform. In: Kunstforum International, Band 259.
    Essays, Bilder, Fotografien und Irritationen zum Thema Staunen. Über den Buchhandel nicht beziehbar.
  9. Giuseppe Galli: Psychologie der sozialen Tugenden. Böhlau Verlag, 2. erw. Auflage 2005; darin: Staunen als soziale Tugend.
  10. Staunen macht die Menschen besser“; Werner Bartens in: Süddeutsche Zeitung, 20. Mai, 2015; online verfügbar.
  11. Ekkehard Martens: Staunen bildet. In: Das Kita Handbuch, Hrsg: Martin. R. Textor und Antje Bostelmann, ohne Jahresangabe, online verfügbar unter: https://kindergartenpaedagogik.de/1055.htlm
  12. Alexander C.T.Geppert und Till Kössler (Hrsg): Wunder – Poetik und Politik des Staunens im 20. Jahrhundert. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Berlin 2011.
    Eine Abhandlung über Wunder im politischen, biblischen, ökologischen und technischen Diskurs im 20. Jahrhundert die nicht nur, aber auch zum Staunen anregten.
  13. Stefan Matuschek: Über das Staunen – eine ideengeschichtliche Analyse. Max Niemeyer Verlag, Tübingen, 1991.
    Studien zur deutschen Literatur, Band 116. Eine Promotionsarbeit. Inhaltsverzeichnis online abrufbar.
  14. Timo Kehren u.a.(Hrsg): Staunen – Perspektiven eines Phänomens zwischen Natur und Kultur. In: Ästhetik des Staunens, Hrsg: Nicola Gess, Mireille Schnyder, Fink Verlag 2019.
    Eher wissenschaftlich, zeitgeschichtlich und philosophisch orientiert.
  15. Jeanne Hersch: Das philosophische Staunen. Einblicke in die Geschichte des Denkens. Aus dem Französischen von Frieda Fischer und Cajetan Freund. Piper Verlag München, 1989.
    Eine Reise durch die Philosophiegeschichte des Staunens von der Antike bis heute.
  16. Siegfried Lenz: Gelegenheit zum Staunen. Ausgewählte Essays. Hrsg: Heinrich Detering, Hoffmann und Campe Verlag, 2014
  17. Christian Lorey, Christoph Gerhard: Womit das Vakuum gefüllt ist. 33 Gründe das Staunen zu lernen. Vier Türme Verlag, 2018.
    Weitere Bücher, Infos und Bilder von Christoph Gerhard OSB unter www.klostersternwarte.de
  18. Rainer Oberthür: Das Buch vom Anfang von Allem. Bibel, Naturwissenschaft und das Geheimnis unseres Universum, Kösel Verlag, 2015.
    Erzählt wird die Geschichte vom Anfang der Welt auf zweierlei Weise: die vom Urknall bis zur Entstehung des Lebens auf der Erde und die Schöpfungsgeschichte der Bibel. Alle Dinge, die wir sehen, können wir doppelt anschauen – als Tatsache und als Geheimnis.
  19. Staunen in: Kurt Marti: Von der Weltleidenschaft Gottes, Denkskizzen, Radius Verlag 1998, S. 7-10.
    Sehr schöne, kurze, kritische und nachdenkliche Assoziationen zum Staunen.
  20. Staunen als Grenzphänomen, Hrsg: Nicola Gess, Mireille Schnyder, Hugues Marchal, Johannes Bartuschat; Reihe Poetik und Ästhetik des Staunens, Bd 1, Fink Verlag, Paderborn, 2017.
    Eine wissenschaftliche Studie. In dieser Reihe sind inzwischen 9 Bände mit verschiedenen Themen und Zugängen zum Thema Staunen erschienen. Mehr unter www.fink.de und über Fernleihe beziehbar.
  21. Eberhard Jüngel: Zum Staunen geboren, Predigten; Radius Verlag, 2004.
  22. Arnold Benz: Das Universum. Wissen und Staunen. Astrophysikalische Erkenntnisse und religiöse Erfahrungen. Haller Verlag, 2019.
    Zahlreichen atemberaubenden Bildern des Universums und der Erde werden philosophische und theologische Zitate aus den Schriften von Arnold Benz gegenübergestellt. So begegnen sich neueste astrophysikalische Erkenntnisse mit biblisch religiösen Erfahrungen. Staunen erweitert den Horizont, macht neugierig und dankbar für das Geschenk der Lebensmöglichkeit in unserem Universum.
  23. Ernst Peter Fischer: Vom Staunen in der Welt. Was Wissenschaft möglich macht – und was nicht. Hirzel Verlag, Stuttgart 2021.
    Wissen bietet Möglichkeiten, die Welt zu beeinflussen, zum Guten wie zum Schlechten. In seinem Buch nimmt uns der Autor mit auf eine abwechslungsreiche und vergnügliche Reise durch die Geschichte des Wissens und der Wissenschaft. Sein Credo: Ziel der Wissenschaft ist, die Bedingungen der menschlichen Existenz zu erleichtern.

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Staunen in Kurzgeschichten

Wenn ein Mensch staunt, dann merkt er, dass etwas Ungewöhnliches, etwas Ungeheuerliches in sein Leben eingedrungen ist. Etwas, das neu eingeordnet werden muss.

Staunen enthält immer ein disruptives Element, das aus dem alltäglichen Trott herausreißt. Davon handeln die folgenden Kurzgeschichten von Frankfurter Autor*innen. Es sind drei Texte aus einer Soiree mit dem Titel „Unglaublich. Eine literarische Soiree zum Staunen“, die im Haus am Dom in Frankfurt stattfand.

Vielleicht staunst Du ja auch über die Geschichten selbst und über die Ideen, die den Mitgliedern der „Autorengruppe Rhein-Main“ (Leitung: Dr. Barbara Brüning) zum Thema gekommen sind; – ungewöhnliche, sehr divergierende Zugänge! Lasse Dich von ihnen überraschen und herausführen aus dem Alltäglichen!

books-1163695_1920-Bild von Eli Digital Creative auf Pixabay

von Esther S. Schmidt

Als Kind denkt man, dass die eigene Mutter schon immer genau das gewesen ist – eine Mutter. Man glaubt, dass sie schon immer unter der Woche arbeiten gegangen ist, schon immer am Wochenende Kuchen gebacken und schon immer beim Fernsehen gebügelt hat. Erst später wird einem klar, dass auch sie einmal ein junges Mädchen gewesen ist, mit schwarzen Zöpfen und weißen Kniestrümpfen.

Zu der Zeit, als meine Mutter schwarz bezopft und weiß bestrumpft ist, wütet ein furchtbarer Krieg. Ein Krieg, der nach Sirenen klingt und nach dumpfen Detonationen. Ein Krieg der dunklen Keller, dessen Zerstörung man nicht sieht, während sie geschieht, sondern erst danach, wenn man aus den Kellern wieder hinaufsteigt in eine entsetzlich veränderte Welt. Ein Krieg, der mehr noch als alle vorangegangenen in den Köpfen stattfindet, nicht nur wegen der allgegenwärtigen Propaganda, sondern auch wegen der Bilder, die in den Köpfen entstehen, während man sich mit Anderen im Bunker zusammengedrängt, lauschend auf das mechanische Heulen, das zugleich ängstigt und beruhigt – denn direkt unter den Bomben hört man deren Heulen nicht.

Zum Zeitpunkt, an dem meine Geschichte einsetzt, wird meine Mutter auf dem Weg durch den Grüneburg-Park vom Warnsignal der Sirenen überrascht. Fliegeralarm. Sie ist ein Kriegskind, sie weiß, was zu tun ist, wenn die Sirenen singen.

Als befinde sich eine entsetzliche Kreatur in der Mitte des Parks streben die Menschen nach allen Richtungen hinaus – im Nu ist er menschenleer. Nur ein einzelner Mann steht verloren auf der Lindenwiese, steht dort, wie verwirrt, und schaut sich um.

„Kommen Sie!“, ruft meine Mutter ihm zu und winkt. „Wir müssen in die Kaiser-Siegmund-Straße!“

Der Mann dreht sich um, und ob er ihre Worte versteht oder ihr Winken, jedenfalls kommt er zu ihr herüber. Ein junger Mann ist er, gute Figur, dunkles Haar, intensive, blaue Augen. Vielleicht schaut meine Mutter ihn ein wenig kokett an, vielleicht verguckt sie sich sogar ein bißchen  in ihn – wenn sie auch noch recht jung ist und Kniestrümpfe trägt.

Doch der Bunker in der Kaiser-Siegmund-Straße ist weit weg. Schon hört man aus der Ferne die Motoren brummen. Sie mischen sich unter die Leute, die in ein Wohnhaus drängen, dessen Keller zu einem Schutzraum ausgebaut wurde. Meine Mutter hat hier schon manches Mal gesessen und kennt das eine oder andere Gesicht. Vielleicht durch Zufall kommt sie neben dem Mann aus dem Park zu sitzen. Er kauert vornübergebeugt, die Ellenbogen auf die Beine gestützt, den Kopf gesenkt, als ob er niemanden anschauen wolle.

Eng ist es im Keller und muffig. Meine Mutter lernt in diesen Tagen, dass Angst stinkt: nach Schweiß, nach Mundgeruch und nach den Eimern hinter den Türen, die mit „Männer“ und „Frauen“ beschriftet sind. Niemand spricht. Wer mag schon plaudern, wenn um ihn her die Welt in Trümmer geht?

Ein Heulen, dann eine Erschütterung. Eine Frau hebt lauschend den Kopf.

„Das war im Norden. Vilbel, vielleicht, oder Friedberg.“

Natürlich kann sie das unmöglich aus den Klängen herausgehört haben, doch einige nicken gläubig. In den Köpfen entstehen Bilder brennender Dörfer.

„Die Tommys sollen schon fast am Rhein sein“, sagt ein Mann.

Wieder Bilder, von Panzern diesmal und Soldaten, die unerbittlich näher rücken, und von denen man nur Schlechtes zu erwarten hat. Lassen sie nicht die Bomben regnen? Werden sie sich nicht rächen wollen für den Krieg, den Deutschland ihnen gebracht hat.

„Die kamen von Westen, nicht wahr? Nicht von Norden, diesmal. Sie waren doch einer der letzten. Haben Sie die Bomber schon gesehen?“

Die Worte sind an den Mann aus dem Park gerichtet, doch der schaut nicht auf, antwortet auch nicht. Fragende Blicke treffen ihn.

„Wollen Sie dem Herren nicht antworten?“

Jemand stößt ihn an. Er sieht hoch – ein stummer Blick, nicht ohne Intelligenz, doch ohne Verstehen.

Und jetzt entstehen andere Bilder in den Köpfen: Von einem britischen Soldaten, der abgeschossen wurde. Von einem Ballen Fallschirmseide, irgendwo im Park versteckt. Von der Gestapo, der man ihn übergeben müsste. Aber nicht bevor man ihn hat spüren lassen, was man von Spionen hält. Kleine Feuer entzünden sich in den Köpfen, werden tuschelnd geschürt. Es tut gut, dieses Gefühl, man könne etwas machen, wenn man tatsächlich nur hilflos in einem Keller sitzt und darauf wartet, dass Feuer und Bomben einem alles nehmen. Die ersten stehen auf, ballen die Fäuste, schauen finster.

Weiß er, was hier geschieht? Spürt er, wie Angst und Misstrauen zu einem giftigen Gericht einkochen? Das Mädchen, das einmal meine Mutter sein wird, spürt es, und schüchtern schiebt sie ihre Hand unter seinen Arm. Ihre helle Stimme übertönt das Tuscheln und sogar das Dröhnen von draußen.

„Onkel Harald ist taubstumm“, sagt sie trotzig. Und dann, zu ihm hochschauend: „Gell? Das nächste Mal gehen wir wieder in den Bunker an der Kaiser-Siegmund!“

Er schaut sie an. Seine Mundwinkel dehnen sich zu einem warmen Lächeln, in dem ein klein wenig Traurigkeit liegt. Dann hebt er die Hand und streicht ihr über das Haar. Das Tuscheln verstummt. Draußen melden die Sirenen Entwarnung.

Hand in Hand verlassen sie den Keller. Erst, als die Menge sich zerstreut hat, lösen sie sich voneinander, wie in abgesprochener Übereinkunft. Die Bertramswiese liegt vor ihnen. Ihre Schritte werden langsamer, sie bleiben stehen, wenden sich einander zu. Und dann sagt er doch etwas: zwei Silben, deren Bedeutung meiner Mutter verschlossen bleibt und über deren Klang sie bereits unsicher ist, als er die Kastanienbäume vor dem Park erreicht hat.

Und dennoch nimmt sie diese beiden Silben ohne Klang und ohne Bedeutung mit sich wie ein Kleinod. Sie verstaut sie in den Schubladen ihrer Erinnerung und manchmal zieht sie das Seidentuch darüber zur Seite und betrachtet sie. Und dann glaube ich in einem versonnenen Lächeln das schwarzbezopfte, weißbestrumpfte Mädchen zu sehen, das meine Mutter einmal gewesen ist.

Esther S. Schmidt, Bombenkeller; aus der Anthologie „Esthers Blätterwald“,  www.esther-s-schmidt.de

von Marlene Schulz

S p i e l r e g e l n: Zwei bis acht Spielende erhalten zu Beginn eine Figur. Diese füllen sie mit Leben. Die Aktionskarten werden gestapelt und verdeckt auf dem Spielfeld platziert. Alle starten bei LOS. Ziel des Spiels ist es, die Mitspielenden an ihre Grenzen zu bringen.
B e i s p i e l e f ü r A k t i o n s k a r t e n: Es ist Dein Geburtstag. Du erhältst von allen Mitspielenden einen Brief. Darin schreiben sie, wofür sie Dich lieben. * Du wirst zu Ausbesserungsarbeiten herangezogen. Lege allen Mitspielenden einzeln eine Lüge offen, mit der Du sie getäuscht hast. * Gehe direkt auf LOS und beginne noch einmal von vorn. * Im Liebesrausch: Werde allen Mitspielenden gleichzeitig gerecht. * Spiele mit offenen Karten. * Bitte alle Mitspielenden zu einem gemeinsamen Treffen. Akzeptiere, wenn jemand dazu nicht bereit ist.
V i e r T r i c k s, d a m i t D u g e w i n n s t: Wahre den Überblick. Demütige Deine Mitspielenden nicht. Halte Dich mit Lügen zurück. Stelle Dir von Zeit zu Zeit vor, wie es Deinen Mitspielenden mit Dir ergeht.
Er erzählt seinen beiden Söhnen von Carolin. Und Linda? Finn fragt das. Linda? Das hat doch mit Linda nichts zu tun. Willst du sagen, dass du zwei Frauen parallel hast? Das fragt Daniel. Ich liebe sie beide. Wie geht das denn? Finn will das wissen. Es gibt nicht einen Topf voll mit Liebe, den jeder Mensch zur Verfügung hat. Liebe ist unbegrenzt, sie wird nicht zugeteilt und auch nicht abgewogen. Ich liebe jeden von euch beiden und liebe euch nicht weniger, nur weil ihr zu zweit seid. Und Linda und die Andere finden das okay? Daniel fragt das. Bei so einem Beziehungsmodell sind alle einverstanden, sonst funktioniert das nicht. Ich lebe das ganz offen. Ihr seht mich glücklich. Seid ihr dann zu dritt zusammen, also gleichzeitig? Finn will das wissen. Das kann sich entwickeln. Wisst ihr, die Zweierbeziehung ist einfach nicht für mich gemacht. Das ist mir zu eng und zu … spießig. Warum erzählst du uns das? Daniel fragt. Das ist ein Teil von mir. Ich möchte mich und Carolin nicht vor euch verstecken müssen. Sie gehört genau wie Linda zu mir.
Finn wollte den beiden heute erzählen, dass er Svenja gefragt und sie ja gesagt hat. Abgeküsst hat sie ihn, sein ganzes Gesicht. Das freut ihn so sehr. Svenja und er, das ist … er kann es gar nicht sagen, nur fühlen.
Finn sieht seinen Vater an, dann Daniel und schweigt.
Ich hab’s ihr gesagt. Und? Wie hat sie reagiert? Sie hat gefragt, wie lange das schon geht mit uns.
Hast du’s ihr gesagt? … Du hast es ihr nicht gesagt. Ich hab ihr nicht jedes Detail erzählt. Und weshalb nicht? Ich denke, du stehst zu mir und zu uns. Wenn ich das nicht tun würde, hätte ich nichts gesagt.

Du versteckst mich. Du übertreibst. Du wolltest, dass ich das mit uns offenlege, hab ich gemacht, obwohl Linda es gar nicht wissen wollte. Offenlegen. Klingt wie ein Seziervorgang. Du stellst dir das so einfach vor. DU lebst doch seit Jahren mit zwei Frauen parallel. Hast immer gesagt, dass das eine offene Beziehung ist mit ihr und kein Geheimnis, trotzdem hast du eins draus gemacht. Ich hab es meinen Kindern erzählt und jetzt auch Linda. Was willst du noch? Was ich noch will? Ich mag keine Beziehung unter vorgehaltener Hand führen. Ich will, dass du dich zu mir bekennst.
Tu ich.
Nach außen sichtbar aber nicht. Da bin ich immer die Andere, die Zweite. Die will ich aber nicht sein.
Carolin, du bist nicht die Zweite, das weißt du.
Ich fühle es aber nicht.
Er begehrt Linda und er begehrt Carolin.
Er begehrt Franka und er begehrt Hannah.
Er begehrt Vivian und er begehrt Freya.
Er küsst Linda und ist zärtlich mit ihr.
Er küsst Carolin und ist zärtlich mit ihr.
Er küsst Franka und ist zärtlich mit ihr.
Er küsst Hannah und ist zärtlich mit ihr.
Er küsst Vivian und ist zärtlich mit ihr.
Er küsst Freya und ist zärtlich mit ihr.
Linda weiß und will mehr nicht wissen. Sie fühlt sich sicher. Carolin weiß nicht alles und will alles wissen. Sie fühlt sich zu wenig. Zu wenig gesehen. Zu wenig geliebt. Zu wenig vereint. Franka weiß wenig, sie will nicht mehr. Hofft, dass er mehr will. Hannah weiß von Linda. Sie will sie kennen lernen. Unbedingt. Vivian und Freya wissen von Linda. Mehr wollen sie nicht. Linda wollte mehr nicht wissen und weiß es jetzt.
Jetzt will sie nicht mehr.
Weißt du, was ich nicht verstehe? Mike sagt das. Linda wollte nicht wissen, was du mit anderen Frauen treibst. Du hast mal gesagt, bei ihr brauchst du dir keine Geschichten ausdenken. Ist natürlich einfacher, weil ihr nicht zusammen lebt, vielmehr: zusammen gelebt habt. … Sie hat es wirklich beendet. … Unfassbar. … Ihr habt ziemlich gut gepasst. … Ganz schön riskant, dass du es ihr aufgetischt hast. … Carolin hat Druck gemacht, stimmt’s? … Dachte ich mir. … Hättest dir denken können, dass Linda das nicht mitmacht. … Willst du eine ehrliche Meinung von mir hören? … Ich verstehe sie. Ist eben kein Spiel. … Weißt du noch, wie eifersüchtig du warst, als sie mal kurz, es war wirklich kurz, einen anderen Kerl neben dir hatte. … Stinknormale Affäre und du am Abkacken. … Linda hat nichts anderes gemacht. … Wobei bei dir, das ist eine andere Hausnummer. … Du hast beide Frauen, die anderen lass ich jetzt mal weg, du hast keine von den beiden gefragt, ob sie so leben wollen wie du. … Hast du nicht gemacht. … Weißt du, was dein Problem mit Linda ist: Sie hat dich nicht genug gebraucht.
Ich habe sie verletzt und dabei wollte ich es nicht, das werde ich mir nie verzeihen, aber zurückdrehen kann ich es nicht und ich wollte noch so viele Jahre mit ihr verbringen, gefühlt ewig.

Ohne sie, das kann ich mir nicht vorstellen. Linda hat mich einfach sein lassen, ich musste nicht lügen. Wie sie das geschafft hat, so offen zu leben, ich bewundere sie. Wahrscheinlich musste sie es beenden. Das sagt Mike. Sie kann so brutal konsequent sein, das tut verdammt weh.

Marlene Schulz, Amorpoly, www.marleneschulz.info

von Robert Maier

Fred hatte den Dreh raus. Leicht in die Hocke gehen und dann sachte, ganz sachte, die Beine strecken. Als hätte er ein Raketentriebwerk umgeschnallt, raste er senkrecht nach oben. Schon nach wenigen Sekunden hatte er eine Höhe von fünfzig Metern erreicht.
Es könnte eine ganze Weile dauern, bis er wieder den Fels des Asteroiden unter sich spüren würde.
Der Blick von hier oben war atemberaubend. Bis zu dem nur wenige hundert Meter entfernten, gekrümmten Horizont zogen sich bizarre, spitz zulaufende Berge aus Granit. Dazwischen waren Krater zu erkennen, Narben vergangener Kollisionen mit anderen Himmelskörpern.
Das Raumschiff, das er von seinem Freund Tom ausgeliehen hatte, funkelte in der Sonne silbrig. Von hier oben wirkte es klein wie ein Spielzeug.
Ich bin leicht wie eine Feder, dachte Fred.
Die Schwerkraft betrug nur einen Bruchteil dessen, was er von der Erde gewohnt war.
Natürlich war er sehr behutsam vorgegangen. Es war lebenswichtig, nicht mit zu starkem Druck von der Oberfläche abzuspringen, da man ansonsten in den Weltraum hinauskatapultiert werden konnte. Auf der Erde bedurfte es einer Tankfüllung teuren Raketenantriebs, damit ein Raumschiff nicht zurückstürzen, sondern in eine Umlaufbahn einschwenken konnte. Bei einem kleinen Asteroiden wie diesem konnte dagegen ein übermütiger Sprung verhängnisvoll sein, und man würde für alle Ewigkeit als Mond um ihn kreisen.
Fred tat so etwas nicht zum ersten Mal, auch wenn dieser Asteroid tatsächlich der kleinste war, auf dem er bislang gesprungen war. Er war immer mit Tom und dessen Raumschiff unterwegs gewesen. Heute war er erstmals alleine.
Seine Leidenschaft für Space Jumping hatte er auf einem Familienurlaub entdeckt. Die Marskolonie selbst war für ihn, damals gerade vierzehn Jahre alt, alles andere als aufregend gewesen. Den Ausflug zu dem Marsmond Phobos dagegen hatte er noch heute in lebhafter Erinnerung. Es war der Tag, an dem er zum ersten Mal Menschen auf einem Himmelskörper springen sah, der nur ein Tausendstel der Schwerkraft der Erde hatte, Space Jumper in schillernden Raumanzügen, die schnell wie Raketen in schwindelerregende Höhen schossen, um danach zunächst langsam wie Schneeflocken, dann immer schneller zurück auf den Boden des Marsmondes zu schweben.
Seine Eltern hatten ihm natürlich verboten, das Sicherheitsseil zu lösen, damit er nicht bei einem unbedachten Schritt ins All hinausfliegen könnte. Für ihn aber war klar: Er würde früher oder später solche Sprünge machen, sei es auf einem der Marsmonde, auf einem Asteroiden oder auf einem Kometen.
Seit nunmehr zwei Jahren war er Space Jumper. Er liebte diesen Kick. Gerade hatte er den höchsten Punkt seines Sprungs erreicht. Wie festgepinnt stand er über dem Asteroiden, dessen geringe
Gravitation nun kaum merklich wieder an ihm zu ziehen begann. Langsam, ganz langsam kam der Granit unter ihm näher.
Sein Freund Tom war noch immer der erfahrenere Springer. Er hatte Techniken drauf, die waren einfach unglaublich. Er beherrschte sogar den ballistischen Sprung, mit dem er wie ein Projektil halb um einen Asteroiden herumfliegen konnte. So weit war Fred noch lange nicht. Er hielt es mit den vertikalen Sprüngen, die ebenfalls sehr anspruchsvoll waren und mit denen er fantastische Höhen erreichte.
Plötzlich bemerkte Fred den Krater direkt unter ihm. Natürlich hatte er beim Sprung alle physikalischen Gesetze bedacht, die hier zum Tragen kamen, insbesondere die Corioliskraft, die ihn seitlich ablenken und nicht an genau der Stelle landen lassen würde, von der er gesprungen war. Nun aber würde er beinahe fünfzig Meter weiter rechts aufkommen – nein, in den Krater stürzen!
Er breitete die Arme aus, begann mit ihnen zu rudern, dabei wusste er, dass es keinen Luftwiderstand gab, der Kräfte freisetzen würde, die seinen Sturz ablenken könnten. Es gab nichts, womit er verhindern konnte, dass er in das Loch schweben würde. Entsetzt starrte er in die Schwärze des Kraters, der unaufhaltsam näherkam. Was hatte er falsch gemacht? Vermutlich war er nicht exakt senkrecht gesprungen. Sein linkes Bein war nicht so stark wie sein rechtes, hatte ein Arzt einmal zu ihm gesagt. Das sei normal für einen Rechtshänder und nicht besorgniserregend. Hier auf diesem Asteroiden aber wurde es ihm zum Verhängnis.
Fred wusste nicht, wie tief das Loch war. Zuvor hatte er einen ähnlichen Krater vermessen und war auf eine erstaunliche Tiefe gekommen. Ein Objekt, das in ihn hineinfiele, würde eine halbe Stunde brauchen, bis es am Grund aufschlüge.
Fred wusste, was ihm bevorstand: ein Tod in Slow Motion. Unaufhaltsam würde er in den Krater hineinschweben, dabei beständig an Geschwindigkeit zunehmen und schließlich am Boden mit einer Kraft aufschlagen, als ob er auf der Erde von einem Hochhaus gesprungen wäre.
Panik überkam ihn. Der Aufschlag könnte in dreißig Minuten erfolgen, vielleicht früher. Er konnte an seiner Situation nichts ändern, war den physikalischen Gesetzen unterworfen, die seinen Körper in die Finsternis des Kraters zogen. Er überlegte, ob er einfach den Helm seines Raumanzugs öffnen, sich dem Vakuum des Weltraums aussetzen sollte, um wenigstens den Zeitpunkt seines Todes selbst zu bestimmen.
Doch bald verspürte er Ruhe. Eine große Ruhe. Längst hatte er jegliches Gefühl für Geschwindigkeit, Raum und Zeit verloren. In der Finsternis nutzten seine Augen ihm nicht, die Geschwindigkeit zu schätzen, mit der er in den Abgrund stürzte. Es gab keine Atmosphäre und damit keinen Fahrtwind, der Aufschluss darüber geben könnte, wie schnell er fiel. Fred konnte nur warten. Warten auf den Tod.
Er musste sich verabschieden, schoss es ihm in den Kopf. Zwar konnte er mit niemandem sprechen,
denn bis zur Erde waren es etliche Lichtminuten, er konnte aber Sprachnachrichten verschicken.
Als erstes schickte er eine Nachricht an seine Freundin, schilderte ihr die Situation, in der er sich befand. Ein trauriges Lebewohl für die Ewigkeit. Wenn sie die Nachricht empfinge, würde er bereits tot sein. Dann nahm er eine Nachricht für seine Eltern auf. Seine Mutter hatte ihm das Space Jumping immer ausreden wollen, es sei zu riskant, hatte sie stets gesagt. Anschließend schickte er eine Nachricht an seine Schwester, dann an Tom, seinen Freund, mit dem er seine Leidenschaft für Space Jumping teilte.
Als die Verbindung mit dem Rest der Welt in dem massiven Fels abbrach, wurde ihm klar, wie alleine er war.
Er hörte nur sein Herz schlagen und seinen Atem. Er hatte allen, die ihm in seinem Leben etwas bedeuteten, eine Nachricht geschickt, hatte sie über seinen bevorstehenden Tod informiert und sich verabschiedet. Er war bereit für das Unausweichliche. Wann würde er sterben? Die Dunkelheit um ihn herum lieferte keinen Anhaltspunkt auf die Geschwindigkeit, mit der er nun durch den Krater raste. Auch die Entfernung zum Grund, auf dem er zerschmettert würde, war ungewiss. Er hatte sowieso keine Vorstellung von Zeit mehr.
Er dachte an seine Freundin, an seine Kindheit, an sein Leben, das bereits zu Ende war.
Plötzlich verspürte er einen Schlag gegen die Schulter. Er musste gegen den Kraterrand gestoßen sein. Wieso aber hatte die Begegnung mit dem Granit sie nicht zertrümmert? Er musste wesentlich langsamer fallen als er dachte! Gleich darauf erhielt er einen weiteren Schlag, beinahe eine sanfte Berührung, diesmal am Oberarm. Und dann erblickte er die Sterne.
Er war zu verblüfft, um sich an dem Felsvorsprung festzuhalten. Schon hatten seine Füße das Loch verlassen, aus dem er herausgeschwebt war, und wieder stieg er in die Höhe. Im Nu war er mehr als zehn Meter über dem Asteroiden und sah auf zerklüftete Berge, andere Berge als vorher. Über ihm leuchteten Sterne, planetare Nebel und Galaxien. Er machte das weißliche Licht der Venus aus, in der anderen Richtung sah er den roten Mars.
Und dann begann er wieder zu sinken. Der Krater, aus dem er gerade wie ein Korken aus einer Sektflasche geschossen war, kam unaufhaltsam auf ihn zu. Erleichtert sah er, dass er auf den Rand des Lochs zuschwebte, wo die kantigen Felsvorsprünge Halt versprachen. Er würde nicht nochmal in einen Krater fallen! Mit seiner ganzen Kraft krallte er sich an den Granit. Seine Beine wurden zur Seite gerissen, und er kam auf dem felsigen Boden zum Liegen.
Das Visier seines Helms beschlug. Er japste. Obwohl er auf dem Asteroiden nur weniger als ein Gramm wog, fiel es ihm schwer, sich aufzurichten. Vorsichtig ging er zum Rand des Lochs, konnte außer einer undurchdringlichen Dunkelheit aber nichts darin erkennen.
Was immer es war, es war kein normaler Krater. Vermutlich hatte einst ein Meteorit den Asteroiden durchschlagen und dabei einen Tunnel hinterlassen. Fred war durch ihn hindurch auf die andere
Seite gefallen. Dabei war er zunächst immer schneller geworden. Als er über den Mittelpunkt des Asteroiden hinaus gewesen war, hatte ihn die Schwerkraft aber wieder abgebremst. Die Gravitation eines Himmelskörpers wirkt immer in dessen Mitte. Und deshalb war Fred noch am Leben.
Er schnaufte einige Male durch und lehnte sich an einen Felsen. Verdammt, er hatte gerade diese Nachrichten verschickt! Sie waren mit Lichtgeschwindigkeit auf dem Weg zu ihren Adressaten. Und sie waren noch nicht angekommen. Am liebsten würde er ihnen hinterherjagen, um sie abzufangen. Aber das war unmöglich.
Er verfasste eine Nachricht an seine Freundin. „Ich bin doch nicht gestorben …“
Es war ihm schrecklich peinlich.

Robert Maier, Tod in Zeitlupe, https://robertmaierautor.wordpress.com/

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Foto: Nicolas Messifet auf Unsplash

Wir haben für Dich lyrische Texte von bekannten Autoren zusammengestellt. Lade dir die Datei gerne herunter indem du auf die folgende Zeile klickst:

Staunend gedichtet – gedichtetes Staunen

Staunen I Entsetzen I Staunen I ein Programmgedicht zur Ausstellung

von Johannes Kohl

Ich staune über die
    freundlichen Horizonte
die sich uns öffnen
uns leiten
verführen
mit Neugier das Weite zu suchen
kraftvoll zuzugehen
ins Unbekannte
sie ziehen uns an
wir nähern uns an
da entziehen sie sich
und weiten sich neu
locken in fernere Weiten
in tiefere Räume
wir gehen und laufen
stolpern und rennen
nähern uns wieder
und finden erneut
weitere Weiten


Ich staune über die
    zarten inneren Welten
die wir erforschen
mit Mikroskopen
Tomographen
sensibelsten Sonden
kleinste Bewegungen
Berührungen
Begegnungen
in innersten Welten
geheimnishaft
Schicht um Schicht
feiner und feiner
kleinste Teile
allerkleinste Teilchen
unteilbare
und wieder und wieder
kleiner und kleiner
Higgs-Bosonen
und submikroskopische
    Schwarze Löcher

Ich staune über die Größe
der Räume
unseres Lebens

Ich staune über die Winzigkeit
der Räume
unseres Lebens

Kein Entrinnen
    aus dem Staunen

Ich staune voraus in die Zeit
kein Ende in Sicht
das Ende ist nahe
nicht vorstellbar
nicht denkbar
ein Ende
die Zeit

Ich staune zurück in die Zeit
kein Anfang sichtbar
der Anfang ist nahe
nicht denkbar
nicht vorstellbar
ein Anfang
die Zeit

Die Zeit
nicht vorstellbares Ende
nicht vorstellbarer Anfang
allem misst sie zu
Anfang und Ende
und zeigt doch selbst
nicht Ende nicht Anfang

Wird sie vergehen
Wird sie vergehen
    mit dem Ende derer
die sie messen
Wird sie sich weiten
weiter sich öffnen
Wird sie sich schließen

Wird sie entstehen
neu entstehen
nochmals entstehen
hat sie begonnen
hat sie Bestand
schon immer
noch immer
noch
immer

Was ist der Beginn
    des Staunens
was sein Ende

Das Staunen
beginnt es
endet es
womit

Ich staune
Ein Mensch springt
in reißende Fluten
rettet einen Ertrinkenden
unvergeltbar
unberechnet
Ein anderer
nimmt die Ertrinkenden
nicht an Bord
unvergolten
unberechenbar

Ich staune
Ein Mensch ergötzt sich
an den Schmerzen anderer
an seiner Gewalt
seiner vernichtenden Gewalt
    über sie
Ein anderer erblickt
den Schmerz
    im Blick des Anderen
er schaut ihn an
lindert ihn
tröstet

Ich staune
    was dieser heute baut
        reißt jener morgen ein

Ich staune
nicht endende Mengen
gepflanzter Apfelbäume
nicht endende Mengen
exportierter Kettensägen

Ich staune
Die tödliche Diagnose
bricht nicht die Liebe
und nicht die Zuversicht
Aus heiterem Himmel
ohne sichtbaren Grund
explodiert der Hass

Staunen
Entsetzen
Staunen

Welches Wort
besteht

Welches
lässt bestehen

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